Ausländerkinder-Pflegestätte

 

ALOIS REMMELBERGER:
 

Zwangsarbeit in der Landwirtschaft und die Errichtung der Ausländerkinder-Pflegestätte in Burgkirchen a.d.Alz in der Zeit des Nationalsozialismus 1943/45

 
 

Einrichtung von Entbindungsheimen für Ostarbeiterinnen und Polinnen  in Gendorf und Kraiburg

 

Beim Aufbau des Rüstungsbetriebes ANORGANA Gendorf im Landkreis Altötting/Oberbayern ab 1939 wurden sehr viele Arbeitskräfte benötigt. Hierzu wurden ab Ende 1939 zwangsweise „Fremdarbeiter“ aus dem besetzten Polen eingesetzt, später auch aus der Ukraine und Russland.

So waren zeitweise mehr als 2.000 Fremd- und Zwangsarbeiter im Lager Gendorf in Holzbaracken untergebracht. Das Lager, das auf Gemeindegebiet Emmerting zwischen dem eigentlichen Werk Gendorf und der Alz lag, wurde von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) beaufsichtigt. 1)

 
FOTO 1  Barackenlager  Anorgana Gendorf um 1945 (Foto: Gemeindearchiv Burgkirchen a.d.Alz)
 

Fremd- und Zwangsarbeiterinnen, die schwanger wurden, wurden  in den ersten Kriegsjahren in ihre Heimat abgeschoben oder konnten einen Schwangerschafts-abbruch in einem Krankenhaus oder im Wohnlager des Werkes Gendorf  vornehmen lassen. Ab 1942 nahm der Mangel an Arbeitskräften zu. Die NS-Verantwortlichen entschieden schließlich 1943, die Frauen nicht mehr abzuschieben, sondern die Schwangeren in neu zu errichtende Entbindungsheime zu bringen, in denen sie die Kinder zur Welt bringen konnten, um anschließend wieder die Arbeit aufzunehmen.

So ließ die Werkleitung von ANORGANA ein solches Entbindungsheim im Wohnlager auf Emmertinger Gemeindegebiet errichten. Ab Anfang 1943 konnten dort die schwangeren Arbeiterinnen aus dem Werk Gendorf und vereinzelt aus der Landwirtschaft  im Landkreis Altötting  entbinden. 

Die Kinder, die im Juni 1944 in der Entbindungsstation im Lager waren, wurden, als die neue  Ausländerkinder-Pflegestätte Burgkirchen fertig war, sofort dorthin gebracht. 

Das Pulverwerk DSC(Deutsche Sprengchemie GmbH) wurde ab 1938 bei Kraiburg -Pürten  errichtet. 2)

Auf Anweisung der DAF und des Kreisleiters Fritz Schwägerl  musste auch für den Landkreis Mühldorf ein Entbindungsheim für schwangere Polinnen und Ostarbeiterinnen errichtet werden. Dieses Heim wurde 1943 im Holzlager der DSC Kraiburg gebaut.

Mit Inbetriebnahme der zentralen Ausländerkinder-Pflegestätte in Burgkirchen  im Sommer 1944 wurden die Kinder dort hingebracht und die schwangeren Frauen mussten künftig dort entbinden.


 

 

Fritz Schwägerl

NSDAP-Kreisleiter von Mühldorf und Altötting,

 gestorben im Mai 1945 durch Selbstmord

( Foto: Stadtarchiv Mühldorf)

 

Zwangsarbeit in der Landwirtschaft

Da die arbeitsfähigen Männer auf den Bauernhöfen überwiegend im Kriegseinsatz  waren, herrschte großer Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft.

Deswegen wurde vom NS-Regime die Zwangsarbeit von jungen Männern und Frauen aus den eroberten Gebieten im Osten, insbesondere aus Polen, Ukraine  und Russland, angeordnet. 3)

Rund die Hälfte  wurde in der Rüstungsindustrie, die   andere Hälfte  in der Land-wirtschaft eingesetzt.

Für beide Landkreise Altötting und Mühldorf, die organisatorisch gemeinsam durch den NS-Kreisleiter Fritz Schwägerl verwaltet  wurden, bedeutete dies, dass ungefähr 4.000 Frauen und Männer in der Landwirtschaft im Zwangseinsatz waren.

 

 Die Errichtung der zentralen  Ausländerkinder-Pflegestätte der Landkreise Altötting und Mühldorf in Burgkirchen a.d.Alz

Da die Zahl der schwangeren Ostarbeiterinnen  in den Rüstungsbetrieben  und  insbesondere auf den vielen  Bauernhöfen in  den Landkreisen Altötting und Mühldorf ständig stieg, schickte die DAF, die für den Einsatz der Fremd- und Zwangsarbeiter verantwortlich war, immer mehr schwangere Frauen aus dem gesamten  Landkreis Altötting zur Entbindung  ins Wohn- und Barackenlager der ANORGANA Gendorf, gegen den Protest der Werksleitung!

1943 wurde  von der DAF beschlossen, für alle schwangeren Ostarbeiterinnen  und Polinnen der Landkreise Altötting und Mühldorf eine zentrale  Entbindungsstation außerhalb des Werkes ANORGANA zu errichten.

So wurde am 13. März 1944 in Abstimmung mit der Werkleitung der Beschluss gefasst, südlich der Alz  auf dem Gebiet der Gemeinde Burgkirchen a.d.Alz,  etwas nördlich der heutigen Keltenhalle, eine zentrale  „Ausländerkinder-Pflegestätte“ zu errichten.  

Die Nähe zu einem Bahnhof war für die Verantwortlichen sehr wichtig, um die Erreichbarkeit der Kinder-Pflegestätte durch die Ausländerinnen zu gewährleisten.

Ab 15. April 1944 stand die Großbaracke auf Burgkirchner  Gemeindegebiet für Entbindungen zur Verfügung.

In der Baracke mit den Maßen 80 m x 12,5 m und einer Höhe von 2,95 m waren Räume für die Verwaltung, Vorräte, Krankenstation, Geburtshilfe und Säuglinge eingerichtet.

 

Wer trug die Verantwortung  in  der Ausländerkinder-Pflegestätte?

Die Verantwortung der neuen Kinder-Pflegestätte lag vor allem bei der DAF (Kreisobmann Georg Schmid) und dem Landrat von Altötting. Die Leiter der Pflegestätte wurden vom Landrat, NSDAP-Kreisleiter Fritz Schwägerl  und Georg Schmid bestellt, ebenso die verantwortlichen Ärzte und das gesamte Pflegepersonal. Die Pflegerinnen waren grundsätzlich  Zwangsarbeiterinnen.

Das Werk ANORGANA hatte laut Verhörprotokoll vom Werkarzt Dr. Artur Hartung dort keine direkte Verantwortung!   5)

Aufforderungen von Dr. Hartung, die Missstände in der Pflegestätte abzustellen, wurden von der DAF und dem Kreisleiter kategorisch abgelehnt.

Dr. Hartung wurde  vom Landrat  und der DAF  gegen seinen Willen  zur ärztlichen Betreuung bestimmt, bis die Pflegestätte ab Oktober 1944  einen eigenen  Arzt  erhielt, der aus der Ukraine hierher  verschleppt worden war  (Dr. Michael Holowatschenko). Der Ukrainer  verantwortete bis Kriegsende zusammen mit dem Leiter  der Pflegestätte und dem DAF-Obmann die unmenschlichen Zustände, die zum  Tod von 159 Kindern führten. 6)

In einer Aktennotiz vom 14. März 1944 über eine Besprechung  im Werk Gendorf zum  Ausländerkinder-Heim wurde die Verantwortung in der Pflegestätte genau festgehalten:

„Hinsichtlich der Organisation wird von Werkleiter Dr. Wittwer festgestellt, das Heim ist nicht eine ANORGANA-Einrichtung, sondern wie der Kreisobmann Schmid bestätigt, eine Einrichtung des Kreises, die auf Anfordern der Partei und unter deren Oberleitung vom Landrat geschaffen wird.

Die Beaufsichtigung des möglichst bald zu öffnenden Heimes liegt dem Landrat ob! Er stellt auch die Heimleiter und das sonst etwa nötige Verwaltungspersonal. Im Übrigen handelt er im engeren Einvernehmen mit der Kreisgruppe der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) bzw. der Kreisleitung.“

 

Das Pflegepersonal jeder Einrichtung  bestand auf Anweisung von Himmler aus osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen. So stammten in Burgkirchen  die Pflegekräfte aus Polen und der Ukraine. Der verantwortliche Arzt Dr. Michael Holowatschenko kam aus der Ukraine, eine zweite Ärztin namens Dr. Petroskaia, die von November 1944 bis Januar 1945 ebenfalls in der Pflegestätte mithelfen musste, stammte aus Russland. 7)

Während im Entbindungsheim der ANORGANA Gendorf die Mithilfe einer deutschen Hebamme Pflicht war, war dies in der Ausländerkinder-Pflegestätte nur geduldet.

 

Foto 2   Ausländerkinder-Pflegestätte  vom  18.6.1945

(Foto: Capt. M.M. Braaf , OMGUS-Akten BayHStA)

 

Weder in den Verhören durch die Amerikaner 1945/46  noch durch spätere  Untersuchungen  der Bayerischen Kriminalpolizei Mühldorf  im Jahr 1961 konnte die Schuldfrage geklärt werden.

Der Kreisleiter Schwägerl  als Hauptverantwortlicher hatte Selbstmord begangen. Der ukrainische  Arzt und die russische Ärztin waren seit Kriegsende flüchtig. Die anderen deutschen Mitverantwortlichen wurden juristisch nicht schuldig gesprochen, sie hatten nur eine moralische Mitschuld.

Die Pflegestätte wurde im Winter 1945/46 vom Verpächter des Grundstücks wegen Baufälligkeit abgerissen.

 

Wer trug die Betriebskosten der Pflegestätte?

Die Betriebskosten der zentralen Ausländerkinder-Pflegestätte mussten laut Landrat alle Kommunen der Landkreise Altötting und Mühldorf entsprechend der Anzahl ihrer Einwohner tragen. 8)

 

Über die in der Ausländerkinder-Pflegestätte verstorbenen  Kinder

Laut den amtlichen Einträgen im Sterbebuch und Geburtenbuch des Standesamtes Burgkirchen a.d.Alz  1944/45 starben von Juli 1944 bis Mai 1945  159 Kinder in der Ausländerkinder-Pflegestätte. 9)

 

 

 

 

Sowohl die Geburt als auch der Tod  eines Kindes wurde  schriftlich von der Heimleitung ans Standesamt Burgkirchen gemeldet, wo dies in den Standesamtsbüchern genau festgehalten wurde.

Von den eingetragenen  Todesursachen wurden  am häufigsten genannt:

Darmkatharr, Magenkatharr,  Rachitis,  Lungenentzündung,  Verdauungsstörungen und   Herzschwäche.

Tatsächlich verstarben die Kinder an mangelnder Pflege,  falscher Ernährung, Kälte und fehlender Hygiene.

 

 

Foto 3   Kindergrab Burgkirchen 2018

Das Grabmal wurde 1953 an der Nordwand von St. Johann angelegt

(Foto: Alois Remmelberger, Burgkirchen a.d.Alz)

Foto 4 Gedenkstätte an der Keltenhalle zur Erinnerung an die Opfer der Zwangsarbeit mit dem Mahnmal an die 159 verstorbenen Kinder

(Foto: Alois Remmelberger, Burgkirchen a.d.Alz)

 

Zusammenfassung

Die Ausländerkinder-Pflegestätte der Landkreise Altötting und Mühldorf in Burgkirchen a.d.Alz steht stellvertretend für rund 400 bis 500 solcher Pflegestätten im  Deutschen Reich  in den Jahren 1944/45.

Nach Schätzungen  sollen dort  100.000 bis 200.000 Kinder zu Tode gekommen sein.

Der Autor des Artikels hat in Zusammenarbeit mit zwei Schulklassen der Mittelschule Burgkirchen a.d.Alz im  Mai  2019 ein Mahnmal bei der Keltenhalle in unmittelbarer Nähe des Standortes der ehemaligen  Ausländerkinder-Pflegestätte  errichtet.

Auf dem Mahnmal wird die Geschichte  der  Ausländerkinder-Pflegestätte in Burgkirchen mit den Namen aller hier verstorbenen Kinder dargestellt.

Neben dem Mahnmal steht ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer der Zwangsarbeit in den Landkreisen Altötting und Mühldorf in Oberbayern. 10)

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Literatur/Quellen

1  Jungblut Peter: Tod in der Wiege. Die Geschichte des Fabrikstandortes Gendorf von 1939 bis 1945, Altötting 1989.

ebenso: Rein strategische Gesichtspunkte. Gendorf 1939 bis 1945. Eine Orts-geschichte, Berlin 2002.

2  Kesselgruber Gertraud: Die Arbeitskräfte der DSC und das Kriegsende, in: Waldkraiburg schaut zurück. Geschichte einer jungen Stadt,  Waldkraiburg 2009.

3  Wikipedia: NS-Zwangsarbeit, 31.10.2018.

4  Gemeindearchiv Burgkirchen:  Schreiben vom 6. März 1944 der NSDAP-Kreisleitung  und  Aktenvermerk vom 14. März 1944 der Werkleitung der ANORGANA Gendorf.

5   Staatsarchiv München: Spruchkammerakte Dr. Hartung  Nr. K 3751.

In  der Spruchkammer Altötting  wurde 1946 die Verantwortung von Dr. Hartung an den Verbrechen im Werk ANORGANA und in der Ausländerkinder-Pflegestätte  untersucht.

Aufgrund der  Entlastungsschreiben  und Zeugenaussagen   wurde Dr. Hartung vom Vorsitzenden am 17.12.1946 laut Artikel 12 als „Mitläufer in Gruppe III“ eingestuft.

6  Bayerisches Hauptstaatsarchiv,  OMGUS-Akten Film 123a/5 vol 1.

7  Wie Anmerkung 6, Verhörprotokolle Stippler und Ottmann.

8 Gemeindearchiv Burgkirchen, Schreiben vom 28.8.1944 des Landrates von Altötting.

9  Gemeindearchiv Burgkirchen, Standesamts-Bücher Burgkirchen a.d.Alz

10  Remmelberger Alois: Ausführlicher Bericht über die AKPS in: Oettinger Land, Jahrgang 2019, Altötting 2019  


 

Dank

 
Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern im Archiv des Bistums Passau und im Stadtarchiv Mühldorf für die freundliche Unterstützung.
 

 

Anlagen

Liste aller in der Ausländerkinder-Pflegestätte Burgkirchen verstorbenen Kinder  1944 bis 1945

© 2013 - Burgkirchen a. d. Alz